Verfassungsworkshop: Narrative der Einwanderungsgesellschaft

Vortragende Person/Vortragende Personen:
Manne Lucha (Minister für Soziales, Gesundheit und Integration)

Empirisch besteht kein Zweifel, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und das Migrationsgeschehen die hiesige Gesellschaft maßgeblich mitprägt und strukturiert. Diese analytische Einsicht stellt für sich genommen jedoch keine normative Blaupause bereit, wie das gesellschaftliche Selbstverständnis und diesbezügliche Debatten auszugestalten sind. Exemplarisch zeigt die Debatte über die Silvesternacht 2022 in Berlin, wie umstritten die betreffenden Narrative sind. Der Konstanzer Verfassungsworkshop möchte daher im Rahmen des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) mögliche Antwortoptionen mit hochrangigen Vertreter:innen verschiedener Disziplinen erkunden. Im Vordergrund steht der offene Gedankenaustausch aus intellektueller Neugier und ohne nachgelagerte Publikationsverpflichtung.
Für eine diverse Gesellschaft, die mit vielfältigen Transformationsprozessen konfrontiert ist, ist es ganz normal, ihr Selbstbild im Diskurs zu erneuern. Mit Blick auf die Einwanderung kommt hinzu, dass das bisherige Selbstverständnis von einem „sedentären Bias“ geprägt war, der das grenzüberschreitende Wanderungsgeschehen weitgehend ausblendete. Dass dies nicht mehr möglich ist und bisher marginalisierte Erfahrungen und Perspektiven nun machtvoll in das gesellschaftliche Selbstbild eindringen, ist ein Grund für das Aufflammen von Kontroversen. Ziel des Workshops ist es, anhand ausgewählter Themenfelder die Weichenstellungen zu verorten – unter Einschluss von unterschiedlichen Positionen über den „richtigen“ Weg.
Hierbei verbindet sich die Diskussion über Einwanderung mit einer gesamtgesellschaftlichen Neuausrichtung. In der Gegenwart werden Migrant:innen nicht mehr, wie noch in den 1980er Jahren, mit häufig paternalistischem Unterton als passive „Opfer“ verstanden. Auch die Aufbruchs- und Emanzipationseuphorie der 1990er und 2000er Jahre ist verflogen, als viele unterschiedliche Akteure auf gleiche Rechte in einer „farbenblinden“ Gesellschaft setzten. Stattdessen werden aktuell immer häufiger Vulnerabilität, Diskriminierung sowie strukturelle Benachteiligungen akzentuiert, die die liberale Vision staatsbürgerlicher Gleichheit relativieren und hinterfragen.
An einer Reihe aktueller Entwicklungen und Anlässe erweist sich die Relevanz der damit aufgeworfenen Fragen: „Rassismus“ wird erst seit kurzer Zeit breiter diskutiert; die Silvesternächte von 2015 und 2022 führten zu heftigen Debatten, wie man mögliche Probleme mit oder ohne migrationsspezifische Komponenten benennt; die anstehende Staatsangehörigkeitsreform rückt die gleiche Zugehörigkeit in rechtlicher und politischer Hinsicht erneut ins Zentrum. Der Verfassungsworkshop soll sich ganz bewusst von solchen konkreten Überlegungen lösen, um auf einer mittle-ren Abstraktionsebene über die normativen Leitplanken der Einwanderungsgesellschaft und die zentralen Diskursverschiebungen zu diskutieren. Wir denken, dass wir mit den Themenfeldern Identitätspolitik und Vulnerabilität (1), Wissen, Geschichte und Erinnerung (2), Gruppen und Gemeinsinn (3) sowie mit der politischen Teilhabe und den lokalen Praktiken (4) uns diesem viel-schichtigen Problemfeld annähern können, um nicht zuletzt dasjenige zu thematisieren, was die Politik neuerdings gemeinhin als „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ bezeichnet.
 


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Datum: 22.06.2023