Studium Generale

Zwischen Autonomie und Souveränität: Die balancierte EU

Prof. Dr. Dr. Udo Di Fabio, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Finanzkrise, Migrationskrise, Coronakrise: Diese Trias der Krisen hat die EU ein Jahrzehnt durchgeschüttelt und verwandelt. Die Rolle der EZB, die Deformation des Schengen- und Dublinrechts, die Konflikte um eine gemeinsame Einwanderungspolitik und die Eröffnung neuer Finanzkapazitäten für die Kommission führen immer stärker zu Systemfragen der europäischen Integration. Im Recht hat das harmonische Bild eines Gerichtsverbundes markante Risse bekommen, nicht erst durch das EZB-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020. In den Mitgliedstaaten haben Populismus oder Neonationalismus zugenommen, aber auch die Einsicht, dass die EU in einer neuen und gefährlichen geopolitischen Konstellation steht, die dringenden Handlungsbedarf erzeugt. Die vom französischen Staatspräsidenten Macron seit längerem geforderte Souveränität Europas bedeutet stärkere Handlungsfähigkeit nach außen und Entwicklung von technologischen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Potenzialen im Inneren: Es geht um die Selbstbehauptung des alten Kontinents mit seinen Demokratien, die liberal, sozial, ökologisch und weltoffen bleiben wollen. Doch Europa kann niemand „durchregieren“ oder planwirtschaftlich lenken. Die politische Wirklichkeit verlangt nach einer klugen strategischen Balancierung von Interessen und Institutionen. Der Blick nach Außen muss schärfer werden, wenn die atlantische Brücke weniger tragfähig wird als im letzten halben Jahrhundert und gleichzeitig robust vorgehende Autokratien oder Diktaturen eine andere Weltordnung wollen. Die meisten Staaten sind entstanden im Konflikt mit anderen Mächten, zumeist weil sie ihre Identität selbstbestimmt entscheiden wollten. Der Verbund souveräner Staaten gelangt als Union von kontrollierter Autonomie zu einer Souveränität politischer Handlungsfähigkeit, wenn heute die Weichen richtig gestellt werden. Es geht neben allen aktuellen politischen Projekten auf längere Sicht darum, dass Freiheit und Wohlstand durch technologische und intellektuelle Innovationen ermöglicht werden, dass leistungsfördernder Wettbewerb in einer Balance von individueller Selbstentfaltung und demokratischer Gemeinwohldefinition gelingt, auf allen Ebenen des Staatenverbundes.

Prof. Dr. Dr. Udo Di Fabio ist verheiratet, hat 4 Kinder, und wohnt in Bonn. 1970 – 1980 Kommunalverwaltungsbeamter bei der Stadt Dinslaken; 1982 Erstes Juristisches Staatsexamen; 1985 Zweites Juristisches Staatsexamen; 1985 – 1986 Richter beim Sozialgericht Duisburg; 1987 Promotion Rechtswissenschaften; 1990 Promotion Sozialwissenschaften; 1993 Habilitation Rechtswissenschaften an der Universität Bonn; 1993–2003 Professuren an den Universitäten Münster, Trier, München; 1999 - 2011 Richter des Bundesverfassungsgerichts; seit 2003 an der Universität Bonn; seit 2006 Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und Künste; seit 2017 Direktor des Forschungskollegs normative Gesellschaftsgrundlagen (FnG) in Bonn.

Moderation: Günther Franke